Henriette Fürth (15.08.1861 – 01.06.1938)

Henriette Fürth wurde als Henriette Katzenstein als älteste Tochter des Holzhändlers Siegmund Katzenstein und seiner Frau Sophie (geb. Loeb) in Gießen geboren. Die Familie betrachtete sich als Nachfahre eines Kohen Gadol, eines jüdischen Hohepriesters und Oberhaupt der Kohanim, der Priesterkaste, die im Jerusalemer Tempel vor dessen Zerstörung durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. den Tempeldienst am Altar verrichtete. „Dem Uradel der Welt entstamme ich. Dem doppelten Uradel. Mein Vater, Siegmund Katzenstein, Spross des Priesterstammes, und zwar, wie man mir sagt, seines vornehmsten Zweiges: Kohen Gadol. Die Mutter aus dem Stamme Levi“, schreibt sie in ihrer Autobiographie. Der Kohen Gadol galt als die höchste religiöse Autorität des Judentums, Henriette Fürth fühlte sich aber trotz ihres Stolzes auf ihre Abstammung und ihres Bekenntnisses zum Judentum als Deutsche: „So wie es Deutsche romanischen, keltischen, slawischen Ursprungs etc. gibt, so war ich Deutsche jüdischen Ursprungs und ich hatte es nicht nötig, durch ‚Assimilation‘ mein Deutschtum zu erlangen oder zu bekräftigen“ (Henriette Fürth: Streifzüge durch das Land eines Lebens. Wiesbaden 2010, S. 107). 

1880 heiratete Henriette Wilhelm Fürth, einen Cousin ihrer Mutter, mit dem sie acht Kinder hatte, von denen zwei von den Nationalsozialisten 1944 in Auschwitz ermordet wurden, während den sechs anderen die Flucht nach Palästina und England gelang. 

Ihr Vater verweigerte nach dem Besuch der Elisabethenschule mit angeschlossenem Lehrerinnenseminar einen weiteren Schulbesuch und meldete seine Tochter ab: „Der Direktor beschwor meine Eltern, mich doch Geschichte studieren zu lassen. Man sah davon ab. Einmal, weil das Abitur für Mädchen damals nur auf dem Weg teurer privater Vorbereitung erreichbar war. Zum anderen, weil ich als Jüdin keinerlei Aussischt auf späteres Fortkommen gehabt hätte. Doch sollte ich wenigstens mein Lehrerinnenseminar machen. Aber auch da ergaben sich Schwierigkeiten. Auf Anfrage beim Hessischen Ministerium in Darmstadt wurde dem Vater beschieden, dass einer Jüdin Aussicht auf spätere Anstellung nicht eröffnet werden könne“ (ebd. S. 65).

Ihr Bruder, Simon Katzenstein*, ein Sozialdemokrat, ermutigte sie ab 1888 zunächst zum Schreiben kleinerer Artikel für Zeitungen. Parallel dazu engagierte sie sich in der Wohlfahrt. Daraus entwickelte sich ein reges sozialpolitisches Engagement mit Vorträgen und Publikationen. 

Zusammen mit Bertha Pappenheim gründete sie 1901 z.B. den Verein Weibliche Fürsorge, zunächst als Abteilung im Israelischen Hilfsverein, später als eigenständigen Verein und bekleidete dort das Amt der ersten, später der zweiten Vorsitzenden (hinter Bertha Pappenheim). Der Verein setzte sich vor allem für jüdische Immigrantinnen aus Galizien ein, die aufgrund fehlender Arbeitsmöglichkeiten und infolge des Mädchenhandels häufig in die Prostitution gedrängt wurden.

Die Zerissenheit zwischen zwei Positionen sollte ein wiederkehrendes Element ihres Lebens bleiben. „Sie emanzipierte sich von der jüdischen Orthodoxie und erfuhr die Ablehnung der Deutschen. Eine Randseiterin war sie aber auch als Bürgerliche, die sich für den Sozialismus engagierte, ohne radikal zu werden. Auch hier nahm sie an zwei verschiedenen Welten teil. Nicht anders als Frau, die in einer von Männern dominierten Gesellschaft aufbegehrte, sich zugleich aber auch von radikal-feministischen Positionen distanzierte. Ebenso als Demokratin, die gegen den militaristischen Wilhelminismus zu Felde zog. Hinzu kommt schließlich noch ihre Position als Autodidaktin in der – ebenfalls von Männern dominierten – akademischen Welt.“, schreibt Ina Seibel (Ina Seibel: Henriette Fürth als Randseiterin (1861-1938), S. 5 f.)**. „Da sie weder religiösen noch politischen Dogmen folgte, noch sich kritiklos ein- und unterordnete, geriet sie mitunter auch innerhalb der jeweiligen Gruppe in die Position der Außenseiterin: Sie war den konservativen Juden nicht jüdisch genug, den Proletarierinnen zu bürgerlich frauenrechtlerisch, den Bürgerlichen zu sozialistisch. Andererseits ermöglichte ihr diese Randständigkeit, Gruppen- und Klassengrenzen zu überwinden und zu vermitteln. Sie war in der bürgerlichen wie in der proletarischen Frauenbewegung als Expertin für sozial-politische Themen ebenso geschätzt wie in den Kreisen bürgerlicher Sozialreformer, und sie meldete sich in fast allen wichtigen Debatten wie Frauenerwerbsarbeit, Arbeiterinnen- und Mutterschutz, Reform der sexuellen Ethik, Prostitution, Bevölkerungspolitik zu Wort.“ zitiert das GFFZ (Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen) die Historikerin Christina Klausmann, leider ohne Seitenangabe ***. 

Henriette Fürth starb 1938 früh genug, um die Ermordung zweier ihrer Töchter in Auschwitz nicht mehr miterleben zu müssen, aber zu spät, um nicht selbst noch den Pogromen und Verfolgungen der Nationalsozialisten ausgesetzt zu sein. Sie lebte zurückgezogen und verbrachte ihr letztes Lebensjahr bei ihre Tochter Lotte Laupheimer und deren Mann Friedrich, der dort gerade das Amt des Bezirksrabbiners bekleidete, in Bad Ems, wo sie auch starb. Friedrich Laupheimer wurde einige Monate nach dem Tod Henriette Fürths während des Novemberprogroms 1938 („Reichskristallnacht“) mißhandelt und im Konzentrationslager Dachau interniert. Es gelang ihm nach seiner Freilassung mit seiner Familie nach Palästina zu emigrieren.

Das GFFZ vergibt alljährlich einen nach Henriette Fürth benannten Preis und „prämiert je eine herausragende Bachelor– sowie eine herausragende Masterarbeit eines Jahres zur Genderthematik an den hessischen Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Die Arbeiten sollten qualitativ herausragend sein, ein für die Frauen- und Genderforschung relevantes Thema bearbeiten und damit besondere Erkenntnisgewinne geliefert haben“.

Henriette Fürth veröffentlichte u.a. einen Gedichtband unter dem Titel „Vineta“ (Modernes Verlags-Bureau Curt Wiegand. Berlin, Leipzig 1911).

  • * Simon Katzenstein (1868 – 1945) war u.a. Stadtverordneter in Charlottenburg (1915-1919) und Mitglied der Weimarer Nationalversammlung (1919/1920). Nach 1933 engagierte er sich in der SoPaDe, einem Zusammenschluss führender SPD-Funktionäre, die sich als Exilvorstand der SPD begriffen. Der SoPaDe lehnte eine Zusammenarbeit mit der KPD strikt ab und setzte auf eine Kooperation mit dem Katholizismus zum Sturz der Nationalsozialisten. Katzenstein wurde 1896 wegen Verstoßes gegen das Presserecht in Sachsen zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt.
  • **Ina Seibel: Henriette Fürth als Randseiterin (1861-1938). wissenschaftliche Examensarbeit bei Prof. Dr. Gerhard Wagner, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main zum Thema: Frauenbewegung, Sozialdemokratie und Judentum. S. 5 f. Als PDF abrufbar unter: https://www.gffz.de/fileadmin/user_upload/hfp/HF_Examensarbeit_Ina_Seibel.pdf
  • ***https://www.gffz.de/das-zentrum/henriette-fuerth-preis/wer-war-henriette-fuerth abg. am 26.07.2022. Das GFFZ (Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen) nennt auf ihrer Literaturseite nur: Klausmann, Christina (1997): Politik und Kultur der Frauenbewegung im Kaiserreich: das Beispiel Frankfurt am Main. Vermutlich stammt das Zitat aus dieser Publikation.

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